Die Skulptur des Bettlers von Ernst Barlach, die im Kreuzgang vom Münsteraner Dom steht, hat mein Herz berührt. So machen es Kunstwerke oft mit mir. Ich bin ganz gefangen und stehe im Hier und Jetzt, im Bann des Kunstwerks. Vergesse die Sorgen. Bin trotzdem ganz bei mir. Oder gerade deswegen.
Barlach hat aus dem Bettler tatsächlich einen Heiligen gemacht. Er strahlt Würde aus, er strahlt Schönheit aus. Er fängt den Blick schon von Weitem. Dieser Schöne, dieser Suchende, dieser Heilige. Er berührt mich, weil ich mich vielleicht in vielerlei Hinsicht auch als Bettlerin fühle. Arm an Wissen. Arm an Weltvertrauen. Und auf jeden Fall fühle ich mich immer als Suchende. Mitten ins Herz, trifft dieser heilige Bettler, dieser schöne, strahlende Suchende. In seiner Schwachheit geht trotzdem Kraft und Würde von ihm aus.
Er zieht mich in seinen Bann.
So geht es mir eine Woche später wieder mit einem ganz anderen Kunstwerk. Dieses Mal ist es das Bild von einem kleinen Raben. Wir waren nach Jena gefahren, weil wir zu einer Vernissage eingeladen waren. Und da traf ich auf den kleinen Raben.
Raben, Krähen, Rabenvögel begleiten mich schon sehr, sehr lange, ich will nicht sagen, mein Leben lang, aber vielleicht, seit ich bewusst denken kann. Meine Großmutter nannte sie Unglücksboten, die Krähen, die über unseren Garten zogen. Und meine Mutter sprach oft davon, dass „nachts die schwarzen Vögel kommen“.
Schwarze Vögel bedeuteten in meiner Kindheit nichts Gutes. Sie waren „Todesvögel“ oder „Unglücksboten“. Oder symbolisierten schwarze Gedanken, die einen nachts verfolgten, wenn man nicht schlafen konnte. Ich hatte also immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich Krähen sah oder ihre krächzenden Schreie hörte. Ich lasse mich immer schnell von abergläubischen Gedanken anstecken. Aber die Krähen faszinierten mich trotzdem irgendwie. Ich mochte ihr schwarz-glänzendes Gefieder. Ich mochte ihre Art zu fliegen. Sie fliegen nämlich so anmutig wie Greifvögel. Mit einer Art von elegantem Gleiten, Souveränität und Gelassenheit.
Ihren schlechten Ruf haben die Raben hierzulande wohl erst im Mittelalter verpasst bekommen. Da wurden sie den verfolgten Hexen zugeordnet. Er kam andererseits auch wohl daher, dass sie Aas fressen.
Bei den alten Germanen und vorher bei den alten Griechen waren die Raben eher gut angesehen. Odin hatte zwei Raben, die er aussandte, dass sie ihn über die Vorgänge in der Welt informierten, und er konnte sich sogar in einen Raben verwandeln.
Dass sich Menschen in Raben verwandeln, kommt in Sagen und Geschichten oft vor. Besonders in Erinnerung ist es mir aus „Krabat“.
Ausgerechnet in die schwarzen Vögel. Warum verwandeln sich die Menschen oder die Zauberer oder Götter wohl ausgerechnet in Rabenvögel? Ich habe es nicht herausfinden können. Ich nehme an, dass es bestimmt damit zusammenhängt, dass diese Vögel auch als äußerst intelligent gelten.
Einen bisschen besseren Ruf bekamen sie, als der Begleiter der kleinen Hexe erfunden wurde. Abraxas. Der schlaue Rabe Abraxas. Ich erinnere mich, dass ich es schön fand, dass dieser unheimliche Vogel, der mir überall begegnete, so positiv beschrieben wurde in dem Buch von Ottfried Preußler.
Heutzutage haben Hexen ja auch nicht mehr dieses miese Image. Im Gegenteil, Hexen gelten als weise. Magische Kräfte werden ihnen vielleicht nicht mehr zugeschrieben, höchstens Wissen über Kräuterheilkunde oder Chakren oder den Einfluss der Sterne auf unser Leben. Zaubern können sie auch nicht mehr, jedenfalls nicht so einfach – Lirumlarumlöffelstiel, und jetzt bin ich Walross, oder so. Schade eigentlich – das bleiben verführerische Gedanken. Aber einen weisen Begleiter wie den Abraxas – den kann man sich doch nur von Herzen wünschen, oder?
Im Gedicht „Der Rabe“ von Edgar Allen Poe ist der Rabe jedoch kein netter Begleiter, sondern treibt den Trauernden in den Wahnsinn. Das ist wieder negativ.
Für mich bedeuteten diese Vögel ja auch jahrelang Angst.
Die Sache mit der kleinen Hexe und Abraxas war mir leider entfallen.
Dass Raben oder Krähen eine positive Bedeutung haben konnten, begegnete mir erst später in einem Film wieder. In „How to make an American Quilt“ wird in einer Geschichte erzählt, wie eine Krähe einer Frau den Weg zu ihrem späteren Ehemann zeigt, sie zu ihm, zu ihrem Glück führt. Das gefiel mir sehr.
Seitdem war mir nicht klar, ob es etwas Gutes oder Schlechtes zu bedeuten hatte, wenn eine Krähe mich im Park ein Stück begleitete – manchmal tun sie so etwas. Oder wenn mir eine sehr nahe kam. Bedeutete es nahendes Unglück? Oder dass ich meinem Lebensziel, was immer das war, näher kam, mit dem, was ich gerade machte.
Im Arches Nationalpark in Utah sahen wir damals einen riesigen Raben ganz aus der Nähe – er war einfach wunderschön.
In der Mythologie der indigenen Völker Nordamerikas sind die Raben sehr geschätzt. In manchen gelten sie als Schöpfer der Welt, haben Sonne, Mond und Sterne für uns an den Himmel gehängt. Ist das nicht ein wunderbares Bild?
Ein heißer Tag im August in Jena. Die Ausstellung findet in einem alten Nebengebäude der alten Schillerkirche statt. Sie wird so genannt, weil Schiller hier 1790 heiratete. Ein geschichtsträchtiger Ort also. Mitten in der Stadt eine fast ländliche Umgebung. Im Haus biegen sich die alten Balken, hatte ich das Gefühl. Ich glaube, in Wirklichkeit waren sie nicht krumm. Und einige davon waren neu, denke ich. Man muss hier und da ein paar Stufen gehen, der Raum liegt auf verschiedenen Ebenen und ist ein bisschen verwinkelt. Das gibt dem Ganzen noch mehr märchenhaften Zauber. Eine kleine Idylle.
Und dann sehe ich ihn. Den kleinen Raben. Unser Freund hat einen kleinen Raben gemalt, und ich hatte nichts davon gewusst. Er hat ein wunderbar lila-schwarz schimmerndes Gefieder. Und einen so schön geschwungenen schwarz-glänzenden Schnabel. Sehr elegant. Sehr würdevoll. Er hat große, blitzende Augen, die mich sehr wach anblicken. Als ob er auf etwas warte. Auf mich? Darauf, dass ich etwas sage? Etwas tue? Er beugt sich ein wenig vor. Er ist mir zugeneigt. Und er trägt eine Krone, golden mit rosa Perlen. Ist er vielleicht eine Räbin? Ja, ganz bestimmt! Und das finde ich natürlich toll! Eine Räbin! Die mich erwartungsvoll anblickt, eine Krone trägt und mir zugeneigt ist.
Das kann doch nur ein gutes Omen sein, oder?
Werde ich von nun an an das Gute in den Rabenvögeln glauben?
Ich weiß, dass es wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit, gar nichts zu bedeuten hat. Was ich darin sehe, hat mehr mit mir selbst zu tun, als mit dem Äußeren.
An den Bedeutungen, die im Laufe der Jahrtausende den Rabenvögeln angedichtet wurden, wird für mich wieder eines deutlich: Ich muss die Gegensätze akzeptieren, sie nebeneinander bestehen lassen, so wie ich es von Paul Watzlawick gelernt habe. Wir konstruieren uns unsere Wirklichkeiten, und es gibt nicht immer nur eine. Selten gibt es nur die eine.
Meine über Räbinnen ist jetzt aber ganz positiv und gibt mir ein bisschen Mut. Diese Wahrheit suche ich mir jetzt so aus.
Sie hat mich getroffen, mitten ins Herz – die kleine Abraxa. Und sie wird mich von nun an begleiten.
Danke, Mathias.