Erinnerungen

Ein blöder Tag. Alles ging schief. Ich bin stinksauer auf verschiedene Leute, die es schaffen, Probleme auch noch zu verschlimmern. So vergeht der Nachmittag, und ich bin so aufgewühlt, dass ich nichts Ordentliches mehr zustande bringe. Ich denke auch, besser, den Blutdruck nicht jetzt kontrollieren.

Dabei weiß ich natürlich, dass es viel Schlimmeres auf dieser Welt gibt. Die Kriege, die Klimakatastrophe, die Rechten. Das macht es uns wirklich schwer, nicht den Mut zu verlieren.

Die Erde ist manchmal kein schöner Ort.

Schließlich setze ich mich auf das Fahrrad und fahre zu dem neuen Sportkurs im Park, der aus ausgiebigem Walken und anschließenden Übungen besteht. Es kommt ein bisschen Freude in mir auf, dass ich wieder mit dem alten Hollandrad meiner Mutter fahren kann. Ich fahre die „Gazelle“, seitdem meine Mutter gestorben ist, und hänge sehr daran.

Vor zwei Wochen nämlich – krack – blieb die Gangschaltung stecken. Mein Herz sank tief. Besonders, als mir in dem jung-dynamischen Radgeschäft, wo ich normalerweise immer sehr freundlich behandelt wurde, auch als „Ü-30“-Mensch mit nicht ganz so dynamischen Fahrrädern, ein noch mehr als bisher jung-dynamischer Lulatsch mit überheblicher Miene sagte, dass es für dieses alte Rad keine Ersatzteile mehr gebe, und außerdem würden sie sowieso keine Hollandräder mehr reparieren. Als sei es unter seiner Würde. Er wünschte mir dann noch viel Glück dabei, eine andere Werkstatt zu finden. Danke für gar nichts.

Trotz der verschwindenden Hoffnung suchte ich und fand eine Werkstatt, wo man mir die Gangschaltung reparierte und notfalls auch Ersatzteile hätte bestellen können, die es durchaus noch gibt! Ich war überglücklich!

Und von diesem Gefühl stieg nun etwas auf, als ich zu meinem Sport fuhr.

Ich habe das Rad nicht gefahren, solange meine Mutter noch lebte. Ich glaube, es hätte sie sehr traurig gemacht. Denn sie ist so gerne Rad gefahren. Jeden Tag, solange das ging. Irgendwann war es leider nicht mehr möglich.

Wenn wir später spazieren gingen, sie mit dem Rollator, und ein Fahrradfahrer an uns vorbeisauste, blickte sie ihm sehnsüchtig nach und sagte: „Ach, noch einmal wieder Fahrrad fahren zu können!“

Ich hänge viele Erinnerungen an Dinge. Das machen nicht alle so, das weiß ich. Ich habe eine Freundin, die alles, was keinen direkten Nutzen hat, sofort wegwirft. Ihre Wohnung sieht natürlich viel aufgeräumter aus als meine, die vollgestopft ist mit Sachen, die ich nicht loslassen kann. Diese Dinge haben für mich aber etwas Lebendiges, ich weiß nicht, warum. Und sie sind wie Knoten in Taschentüchern, und wenn ich darüber sinniere, kommen mir Bilder von früher, manchmal Gedanken und neue Erkenntnisse über die Vergangenheit, auch über die Menschen, die daran hingen – andere Vorstellungen. Sie werden ein bisschen lebendig. Und ich fange an, etwas anderes zu verstehen. Manchmal schmerzt es, manchmal erlöst es.

Auch das Rad gab mir noch einmal einen anderen Blick. Es hat eine 5-Gang-Schaltung, aber meine Mutter fuhr immer nur im dritten Gang. Darüber haben wir uns in der Familie ein bisschen amüsiert. Typisch Mutter, verweigert sich jedweder „Technik“. Ein bisschen stimmte das vielleicht, ein bisschen mehr wahrscheinlich auch.

Aber jetzt entdeckte ich beim Fahren dieses Rades: sein dritter Gang ist ein echter Wundergang! Das Rad macht es einem so einfach. Man sitzt bequem und aufrecht, und es tritt sich in diesem Gang so leicht! Man kommt zwar nicht sehr schnell vorwärts, aber man muss sich auch überhaupt nicht anstrengen. Ich dudel damit so durch die Landschaft oder die Stadt und kann Gedanken nachhängen, träumen, nach rechts und links gucken. Wunderbar. Und ich stelle mir dann meine Mutter vor, wie sie früher durch die Gegend dudelte und sich so gut dabei fühlte. Dann fährt sie ein bisschen mit mir.

Wenn ich mich nicht mehr erinnere, verliere ich einen Teil von mir selbst. So empfinde ich es. Das scheint gerade mein Thema zu sein. Liegt wahrscheinlich daran, dass es nicht sehr lange her ist, dass meine Mutter starb.

Und ich hatte den Gedanken, dass wir Menschen uns deshalb vielleicht immer wieder die alten Geschichten erzählen müssen. Um sie nicht zu verlieren, um uns nicht zu verlieren. Ich habe sie immer gern gehört, von den Großeltern, den Eltern, den Tanten. Und manchmal kann der Mensch etwas daraus lernen. Oftmals auch nicht, wenn man die ganz große Geschichte bedenkt. Immer noch Kriege, immer noch Unvernunft, immer noch so viele Menschen, die anderen ihre Lebensart aufzwingen wollen. Dabei hätten auch sie die Chance gehabt, etwas zu lernen, wenn sie einmal richtig zugehört hätten.

Das Laufen durch den Park strengt mich an, aber ich merke auch, dass es mir gut tut. Ich erzähle meiner Freundin, die neben mir läuft, dass meine Mutter einmal in diesem Park von einem alten Mann angebaggert wurde, als wir hier spazieren gingen. Auch eine Erinnerung. Meine Freundin lacht.

Zum Abschluss des Tages müssen wir uns für die Dehnungsübungen auf das Handtuch legen, ausgebreitet auf einer gemähten Wiese. Sie ist bedeckt mit den trocknenden abgeschnittenen Grashalmen, die sich kurz vor dem Heustadium befinden. Mich juckt es schon bei dem Gedanken an Heu und Insekten . . . kann die Pusteln schon sprießen sehen. Bei einer Übung müssen wir uns auf den Rücken legen und die Arme zu beiden Seiten ausstrecken (auf der Heuwiese!), wie Engel.

Ich blicke, dort auf der Wiese liegend, in einen Baum. Dahinter ziehen fedrige Wölkchen am blauen Abendhimmel vorbei. Und es ist so still. Harmonisch. Ein kleiner Stillstand, bevor wieder etwas anderes kommt. Es ist die Spätsommerstille im Park. Nach der Sommerhitze, und vor dem Herbst. Ein Moment der Ruhe. Für das hier, hier auf der Wiese zu liegen, in die Baumkrone und den blauen Himmel zu blicken . . . alles andere zu vergessen, sogar, dass mich jetzt gerade wahrscheinlich irgendwelche Insekten beißen . . . die Schönheit dieses Augenblicks . . . dafür allein hat sich dieser Tag gelohnt! Die Erde könnte so ein wunderbarer Ort zum Leben sein.