Die Magie der Fremdheit

Seit über 20 Jahren grüßten wir uns sehr freundlich, die Frau aus dem Nachbarhaus und ich. Sie hat ein sympathisches Lächeln, und ihre ganze Art und Erscheinung ließen mich erwarten, dass ich sie mögen würde und nichts dagegen hätte, sie näher kennenzulernen. Aber irgendwie ging der Kontakt nie über Lächeln, Winken oder Grüßen hinaus. Im Urlaub trafen wir sie und ihren Mann zufällig auf einer Strandpromenade, weit weg von zu Hause. Und wieder ergriff keine von uns die Gelegenheit, ein gemeinsames Kaffeetrinken oder ähnliches vorzuschlagen. Aber wir sprachen eine Weile zusammen, über dies und über das. Und es hatte etwas Vertrautes und etwas Fremdes und vielleicht etwas Geheimnisvolles. Seitdem plauderten wir immer ein bisschen zusammen, wenn wir uns zufällig begegneten, auf der Straße, von Balkon zu Balkon, beim Einkaufen. Wir tauschten dabei aber niemals unsere Namen aus.

In der vergangenen Woche nun traf ich sie wieder einmal zufällig in der Stadt. Und nach einer Weile fragte sie, ob ich noch etwas Zeit hätte, dann könnten wir doch einen Kaffee trinken statt hier die ganze Zeit rumzustehen.
Wir gingen ins Café, saßen an diesem warmen Tag draußen auf einem schönen Platz im Schatten, ein bisschen wie im Urlaub, und wir quatschten über eine Stunde lang, und wir verstanden uns in jeder Beziehung gut. Auch über die Wahlen haben wir uns unterhalten, aber nur ganz leise und ganz kurz, und auch auch da waren wir einer Meinung, nämlich, dass unser Land in eine Katastrophe schlittert. Man mag ja gar nicht mehr darüber nachdenken, geschweige denn reden. Wir erzählten uns alles Mögliche, auch recht private Dinge. Es war nicht wie mit einer alten Freundin, sondern eher wie mit einer verwandten Seele, die gerade von einem anderen Stern neben mir gelandet war, und wir mussten uns jetzt erst einmal alles erzählen, um uns kennenzulernen. Das war schön, und uns umgab ein Zauber.

So hatte mich der Eindruck, den ich die ganzen Jahre hatte, doch nicht getäuscht: sie war eine Frau, mit der ich mich gut verstehen könnte.

Ich frage mich, wie das mit den Eindrücken von anderen Menschen ist, von denen man eigentlich nichts weiß. Wie kommt man zu einer Beurteilung? Und man liegt ja auch nicht immer richtig.

Noch interessanter ist es vielleicht mit Liebesbeziehungen. Man fängt sie ja meistens an, bevor man sich richtig kennengelernt hat.

„Wir lieben nie jemanden, nie. Wir lieben allein die Vorstellung, die wir von jemandem haben. Unsere eigene Idee, uns selbst also, lieben wir.“ Das ist ein Zitat von Fernando Pessoa, und ich würde ihm für die Anfänge von Bekanntschaften vielleicht zustimmen, jedoch nicht für lange Beziehungen, aber zumindest für die erste Zeit einer Liebe. Beim Verliebtsein. Dann kommen nach und nach die kleinen und großen Enttäuschungen, dass er/sie doch ganz anders ist als gedacht. Und hinzu kommt natürlich, dass wir uns in der Zeit der „Anbahnung“ sehr viel mehr Mühe gegeben haben, uns gegenseitig zu gefallen. Das heißt, man könnte sagen, es liegt sogar eine absichtliche Täuschung vor. Wie kommt es, dass wir dann, nach all diesen Enttäuschungen zusammenbleiben? Ich habe mich ja damals auch ein wenig verstellt. Bin, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hochgerast. Habe so getan, als sei ich eine Frohnatur. Und alle, die mich ein bisschen kennen, wissen, dass es vorkommen kann, dass ich froh und übermütig bin, aber dass es doch eher die Ausnahme ist. Doch war das wirklich eine vorsätzliche Täuschung? Vielleicht war ich damals, in seiner belebenden, prickelnden Gegenwart, tatsächlich eine kleine Frohnatur? Hat er das aus mir gemacht? Oder war es einfach die normale Verrücktheit auf der Wolke des Verliebtseins . . . ??? Das werde ich wohl nicht herausbekommen. Vielleicht aber liegt hier die Antwort auf die Frage. Wir bringen gegenseitig etwas aus uns hervor, das liebenswert ist, das wir uns wünschen zu sein. Froh zu sein, statt immer depressiv und traurig. Und was habe ich in ihm ausgelöst? Er hat sich in meiner Gegenwart bestimmt stark gefühlt, und mutig. Was er nicht immer ist, wenn ich es recht bedenke. Aber er ist mutiger als ich, auf jeden Fall. Vielleicht schälen wir gegenseitig das Gute aus uns heraus? Bringen Saiten zum Klingen, von denen wir nichts ahnten? Oder nichts davon ahnten, dass wir sie herauskehren können? Hat die Liebe tatsächlich mehr mit uns selbst zu tun als dem/der Geliebten? Ich weiß es nicht. Aber es ist gut, und es ist zauberhaft.

Und mit Freundschaften und Bekanntschaften ist es vielleicht ähnlich, nicht ganz so intensiv, weil man ja nicht tagtäglich zusammenleben will, aber ähnlich. Ist es in einer guten Freundschaft vielleicht auch so, das wir das Beste aus uns herausholen? Ich denke, vielleicht dann, wenn wir nicht ständig Erwartungen haben. Dann ist es ein schönes Miteinander, wie dieses überraschende Kaffeetrinken.

Wie Patrick Modiano schreibt: „Aber schließlich sind die wahren Begegnungen solche zwischen zwei Menschen, die nichts voneinander wissen, selbst nachts nicht, in einem Hotelzimmer.“

Erwartungen. Sind sie es nicht, die alles schwer machen? Auch in der Liebe? Ich wünschte mir manchmal sehr, einfach loslassen zu können. Manchmal habe ich den Eindruck, die Erwartungen hüllen uns ein wie ein dicker Nebel, und wir sind nicht dazu in der Lage, die Wirklichkeit zu sehen. Smog. Erwartungen sind wie Smog, durch den wir wandern.

Aber manchmal erfüllen sie sich doch auch aufs Schönste, wie beim Kaffeetrinken mit der Nachbarin. Wir wissen nun immerhin unsere Vornamen. Und nächstes Mal tauschen wir dann vielleicht sogar unsere Telefonnummern aus. Aber vielleicht erhalten wir uns diese magischen, von allen Erwartungen und Verpflichtungen freien Begegnungen auch noch für eine Weile länger. Und bringen diese kleinen Lichtmomente in unseren Alltag. Ein Lächeln, ein Grüßen, ein bisschen Verstehen.