Ich nahm mir fest vor, diese wunderbare Reise zu genießen, und vor allem, etwas dabei zu lernen, etwas zu erfahren.
Wir reisten zum dritten Mal gemeinsam nach New York, und zum etlichen Mal in unsere zweite Heimat, nach North Carolina.
Würde New York mich wieder so in seinen Bann ziehen? Würde es diesen Zauber noch geben? Oder würde es sein, wie mit anderen Orten, von denen wir bei einem wiederholten Besuch fürchterlich enttäuscht waren, weil unsere Erinnerung viel toller gewesen war. Die Magie verloren.
Wie würde es sein, die alten Freunde wiederzusehen? Wieder in Durham zu sein, dem anderen Sehnsuchtsort. Würde es so sein wie früher? Würde es fremd sein? Würden wir fremd sein? Wir waren mittlerweile sieben Jahre nicht mehr nach Amerika gereist. Krankheit und Tod der Eltern und Corona hatten diese Schneise geschlagen.
Wie brächten wir das alles zusammen? Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Freundschaften, unsere Begeisterung, unsere Liebe. Pastrami-Sandwiches und New York Cheesecake. Walking over Brooklyn Bridge. Sternenhimmel in der Central Station? Würde es alles noch so sein? Was würde ich einsammeln außer Eindrücken?
Es hat mich sehr gerührt, dass ein Mann Kastanien in seiner Hosentasche hatte, als er beim Security Check war . . .
Und dann lag New York einfach so wieder vor uns. Da ich auf einer Sitzplatzreservierung bestanden hatte und mein Schatz sich mit Richtungen und Anflügen auskennt, hatten wir Plätze, von denen aus wir auf die Stadt blicken konnten. So ergänzen wir uns nach so vielen Jahren immer noch. Und ein Kribbeln erfasste mich bei dem Anblick der Stadt aus dem Flugzeugfenster. In diesem Moment fiel alles von mir ab. Sogar, dass ich vergessen hatte, neue Mülltüten in die Mülleimer zu tun. Und dass nun womöglich gerade in unsere unbewachte Wohnung eingebrochen wurde. Gedanken, die ich in der S-Bahn auf dem Weg zum Flughafen noch hatte.
Der Blick aus dem Flugzeug auf die Stadt. Wie sie sich aus der Ebene erhebt wie ein kleines, abgeriegelte Gebirge, mit den vielen Wolkenkratzern. Ein kompaktes Gebilde. Umgeben von diesen breiten Flüssen. Nahe zum Meer. Diese kleine Welt. Diese kleine Welt in der großen Welt. Mit all den verschiedenen Menschen, die es gut miteinander aushalten. Belebtes Chinatown und quirliges Little Italy. Glitzernder Diamond District, blinkender Time Square, geliebtes MOMA, elegantes Empire State Building . . . grauer Hudson . . . siegreiche Lady Liberty!
Und tatsächlich: Es war alles ganz genauso schön wie immer. Wir wandelten auf den alten und den neuen Pfaden. Es war laut. Hupen, Sirenen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Geliebtes Manhattan. Es roch an jeder Ecke nach Marihuana. Das war allerdings neu. Früher latschten die Leute nicht mit dem Joint in der Hand durch die Gegend. Der Geruch belästigte mich. Und doch: Es störte mich, und es störte mich nicht.
Es war ein Gefühl, wie einfach wieder aufgetaucht zu sein. Es waren viele Jahre vergangen, aber ich war nun eben wieder da. Es hatte sich vieles verändert, aber das nahm ich nicht so richtig wahr. Oder es ergab sich schlicht als „folgerichtig“, dass das jetzt so aussah und nicht anders. Welche Folge? Keine Ahnung. Es war einfach alles so, wie es sein sollte.
Einiges hatte sich nicht verändert. Die Felsen im Central Park. Die Flüsse. Die Brücken. Das Gewimmel in den Straßen. Die abgestandene Luft in den heruntergekommenen Metros und ihren Stationen. Die Obdachlosen. Das Funkeln der Einkaräter in den Schaufensterauslagen des Diamond Districts.
Die Gegensätze, aus denen das Leben, die Welt besteht. Alles da. Alles zusammen. Und sie ließen sich aushalten. Sie lassen sich nicht alle auflösen, nur die wenigsten, Besser wir lernen, sie zu akzeptieren, sie auszuhalten. Und das geht hier irgendwie gut.
Wir waren einfach wieder da, tanzten auf der Straße beim Fest des San Gennaro.
So wie ich früher erstaunt war, dass in Amerika alles so war, wie ich es in Filmen und Fernsehen erlebt zu haben glaubte, so tauchte ich in New York einfach so wieder auf. Puff – da war ich, da war New York, wie aus der Zauberflasche . . . und es war wieder wie Champagner-Trinken.
Ich stand wieder hier, betrat die Stadt von neuem, viele Jahre älter, die ich aber gar nicht spürte. Hier nicht. Außer vielleicht, dass ich dieses Mal gar keine Angst hatte . . . aber das hatte bestimmt andere Gründe.
Und dann zurück in North Carolina. Heiße, schwüle Luft, die sich auf unsere Lungen legte. Der Eno River. Das Geräusch von Millionen von Grillen. So etwas Beruhigendes. Eine davon würde uns allerdings in den kommenden Nächten mächtig nerven. Maureen, die uns in den Arm nahm. Wir weinten. Sie sah aus wie immer. Alles fühlte sich an wie immer.
Wieder hier zu sein, fühlte sich gleichzeitig so „normal“ und doch so unwirklich an. Wir trafen einfach wieder ein in unserem alten Leben, als ob wir gerade nur mal eben auf der Toilette verschwunden waren oder nach einem kleinen Mittagsschlaf zurückkehrten. Und gleichzeitig war da das Gefühl, als ob gerade etwas passierte, was doch völlig unmöglich erschien.
Maureen sagte dasselbe, als sie uns in die Arme nahm. Und Dwight später auch. Maureen gab mir den Auftrag, darüber zu schreiben und ein Wort für dieses Gefühl zu finden.
Was soll ich darüber schreiben? Wir fassen manche Dinge nicht mit unserem kleinen Geist, das denke ich.
Ich frage mich, ob es anders gewesen wäre, wenn wir langsamer gereist wären. Sagen wir, zu Pferd, mit dem Schiff oder zu Fuß.
Ist die Geschwindigkeit tatsächlich unfassbar für den menschlichen Geist?
Mit der heutigen Art des Reisens kommt man nicht „verwandelt“ an. Man kommt fast genauso rüber, wie man ins Flugzeug eingestiegen ist.
Aber unsere Freunde empfanden unser Wiederkommen ja ebenso, und sie waren nicht gereist. Keine Chance auf Verwandlung.
Ich muss an die Erfahrung mit der Dunkelheit in der Höhle denken. Wie durch das Schalten eines Lichtschalters oder beim Durchschreiten einer Tür eine Schwelle überschritten wird und Licht auf das fällt, was die ganze Zeit da ist, aber nicht zu sehen ist.
Wenn ich diesen Gedanken weiterspinne, frage ich mich: Ist etwas da, wenn ich daran denke? Und einfach weg, wenn ich nicht daran denke? Sind Gedanken wie das Licht?
Oder anders: Wir hatten unsere Freunde und New York und North Carolina all die Jahre ja in unseren Gedanken – heißt das nicht, sie waren eigentlich immer da und wir auch dort?
Es geht uns ja auch nicht mit jedem Menschen so. Manche Gesichter sehen fremd aus, wenn man sie über Jahre nicht gesehen hat. Vielleicht etwa, weil wir nicht so oft an sie gedacht haben? Oder weil sie uns doch nicht so lieb, so vertraut waren? Finden wir immer und überall das wieder, was wir lieben? Das wäre eine schöne Vorstellung, aber schwer zu glauben. Egal. Manche Gesichter jedenfalls, so wie die von Maureen und Dwight, sind aber eben einfach wieder da, als ob nichts dazwischen geschehen wäre.
Normal und irreal zur selben Zeit.
Dieses Gefühl war irre. Wir befanden uns außerhalb von Zeit und Raum. In einem Zwischenzustand . . einem Schwebezustand. In der Verbundenheit.
Vielleicht ein bisschen wie in einem Traum.
Vielleicht wie im „Sturm“ von Shakespeare:
Wir sind aus gleichem Stoff gemacht wie Träume.
Unser kurzes Leben umgibt der Schlaf.
Das meiste, was uns geschieht, fassen wir gar nicht richtig, und das merken wir vielleicht erst bei diesen besonderen Gelegenheiten . . . kann das sein?
Mir fällt nichts Besseres ein als „Traumwirklichkeit“ für unseren Zustand. „Dream Reality“. Aber schön.
Wir brauchen Träume in dieser Zeit. Und einen Zufluchtsort. In NYC hat Trump bei der letzten Wahl mal gerade 10 Prozent der Wählerstimmen bekommen . . . .
Ich habe keine Kastanien in meiner Manteltasche und dieses Mal auch keine Muscheln oder Sanddollars, weil wir wegen eines tropischen Sturms nicht nach Ocracoke gekommen sind, auf unsere Lieblingsinsel – aber dafür trage ich ein Armband mit dem Namen von Kamala Harris. Und ein bisschen Hoffnung.