Auszüge aus „Im Banne von Felsen und Geistern: Eine Reise durch Utah“
Im Moab
Frühstück in Moab
H hat ja Das amerikanische Tagebuch von Siegfried Lenz gelesen, der darin ständig vom amerikanischen Frühstück schwärmt. Da stimmen wir mit ihm völlig überein. Auch wir lieben das amerikanische Frühstück sehr … natürlich möchte man auch das nicht jeden Tag essen … aber im Urlaub ist es auf jeden Fall ein Genuss …
So es gab für uns an diesem ersten Morgen in Moab dann eben auch ein typisch amerikanisches Frühstück im Jailhouse Café, an dem auch Siegfried Lenz eine Riesenfreude gehabt hätte. Hier merken wir nichts vom mormonischen Ursprung des Ortes. Schon der Name Jailhouse Café klingt ganz „unmormonisch“. Und die Bedienung sieht eher ein bisschen althippiemäßig aus … eine drahtige, etwas ältere Frau mit langen offenen Haaren und langem bunten Rock. Das ganze Café wirkt ein bisschen so. Mir gefällt es. Im Sommer kann man schön draußen sitzen. Hartgesottene machen das jetzt schon … sie haben nicht einmal die Reißverschlüsse ihrer Fleecejacken geschlossen.
Und ich muss sagen, im Jailhouse Café bekomme ich das bisher beste Frühstück des gesamten Aufenthaltes. Ich esse Eggs Florentine … das sind Eggs Benedict, pochierte Eier auf einem English Muffin mit Sauce Hollandaise, aber die florentinischen haben Spinat darunter statt des Canadian Bacon unter den Eggs Benedict … einfach köstlich. Das gehört also auf jeden Fall auf eine Liste der amerikanischen kulinarischen Highlights – das Frühstück, wenn es gut gemacht ist … insbesondere Eggs Benedict und dann natürlich Lox & Eggs, ein Rührei mit Zwiebeln und Räucherlachs. Da läuft mir schon bei der Vorstellung das Wasser im Mund zusammen. Lenz’ Schwärmen für das amerikanische Frühstück ist so etwas von berechtigt …
Am Tempel in Salt Lake City
Am Tempel in SLC
Auf dem Rückweg begegnen wir einem alten Mann mit einem kleinen Hund … ein großer Mann, mit strahlend-weißem Poloshirt und nicht-verknitterter Hose (das gibt es nämlich auch!), er hat eine leicht gebeugte Haltung, was wahrscheinlich mit seiner Länge zusammenhängt, und er strahlt dabei Festigkeit und Selbstbewusstsein aus, ohne arrogant zu wirken … er erinnert mich an unseren Zahnarzt. Er spricht uns an, will wissen, woher wir stammen, weil ihm unser „lovely accent“ natürlich sofort verrät, dass wir keine amerikanischen Touristen sind … ein sympathischer Mann, bestimmt kein Mormone. Ich weiß jetzt schon, dass H über diesen Satz lachen wird und mich fragen, woran ich denn Mormonen erkenne und warum ich denke, dass Mormonen nicht sympathisch sein können … er kannte nämlich früher in der Arbeitsgruppe in Durham einen sehr netten Mormonen, der auch gar nicht komisch angezogen war. Okay, denke ich. In Durham, in der mormonischen Diaspora mag das ja so sein. Aber hier?
Ich frage mich, ob wir hier schon einmal mit einem Mormonen gesprochen haben, außer am Tempel, wo sie einen in Paaren anquatschen und ganz bedeutsam darauf hinweisen, welche großen Wunder beweisen, dass Gott die Mormonen liebt.
So ist es uns auch geschehen, als wir über das Tempelgelände schlenderten. Zwei junge Frauen sprachen uns an, als wir an dem Monument standen und zu den beiden bronzenen Möwen auf der Spitze des Denkmals hoch blickten. Die beiden Frauen sahen aus wie Erscheinungen aus der Serie Die Waltons oder Unsere kleine Farm, oder wie auf dem Weg ins Mädchenpensionat. Also, ganz so altmodisch waren sie in Wirklichkeit nicht gekleidet, aber irgendwie musste ich an diese alten Serien denken. Sie trugen Röcke und Mäntel, und dazu irgendwie unsichtbare Nonnenhauben. Also, nein, keine Hauben, aber irgendwie hätten sie dazu gepasst … die jungen Frauen hatten beide sehr lange schwarze Haare, zu Zöpfen geflochten. Sie stellten sich vor, als Schwester Consuela und Schwester Maria, oder so ähnlich. Eine von ihnen kam ursprünglich aus Spanien, die andere aus Bolivien. Sie erzählten uns, wie schön es ist, in dieser Gemeinschaft der Mormonen zu leben. Fast jeder Tourist, der über den Tempelplatz geht, wird von einem Paar solcher Mormonen angesprochen, immer zwei Frauen oder zwei Männer. . . . Die Bolivierin redete die meiste Zeit allein. Die Spanierin stand eher schüchtern daneben, während ihre Schwester uns zu examinieren begann. Und da man das unangenehme Gefühl hat, dass man sich ja auf ihrem Grundstück befindet, auf ihrem Terrain, das ja auch noch sozusagen irgendwie heilig ist, und da man religiöse Stätten ja immer besonders respektiert, bleibt man stehen und geht auf das Gespräch ein. Ob wir wüssten, was dieses Denkmal darstellen sollte. So weit waren wir noch nicht gekommen, das nachzulesen. Also, nein. Ob wir denn sehen könnten, was da oben auf der Spitze dieses Monuments thronte. Zwei Möwen, sagen wir. Man kann ihnen nicht entgehen, den mormonischen Schwestern. . . . Und sie verschont uns auch nicht mit dem Rest der Geschichte: Als die ersten mormonischen Siedler sich hier in Utah niederließen, da drohte ihnen im ersten Frühling, als der Weizen reifte, den sie angebaut hatten, eine furchtbare Plage durch Grillen, die in großen Scharen über die Felder herfielen. Da erschienen rechtzeitig große Schwärme von Möwen, welche die Grillen auffraßen und so die Ernte retteten … mit diesem „Möwenwunder“ zeigte Gott also, dass er die Mormonen besonders liebt. Seit 1913 steht das Denkmal hier. Dann geht das Examinieren weiter. Ob wir regelmäßig beten würden. Nein, antworten wir. Ich weiß gar nicht, warum wir überhaupt auf solche Fragen antworteten. Dann erklärt uns die bolivianische Schwester noch die heilenden Kräfte des Betens und sagt, wir sollten es doch mal wieder tun. Es ist schon ein bisschen aufdringlich. Zum Schluss fragt sie, ob wir vielleicht noch Fragen hätten. Ich frage, ob wir den Tempel besichtigen könnten. Oh ja, sicher, sagt sie, ich müsste nur Mormonin werden, dann gehörte ich zu den Auserwählten, die in den Tempel dürfen. Und ich habe nicht den Eindruck, dass sie das irgendwie ironisch meint. Jedenfalls verzieht sie keine Miene bei diesen Worten.
Das erinnerte mich an jene alte Postkarte, die mein Vater letztens hergekramt hatte. Die Karte von 1929, auf welcher der Tempel von Salt Lake City abgebildet ist, der damals schon genauso aussah, wie er heute immer noch aussieht, geschrieben von einer Großcousine meiner Großmutter an dieselbe:
„Liebe Emma, schicke Dir ein kleines Lebenszeichen von mir. Hoffe, dass es Dir gut geht. Mir geht es hier sehr gut. In diesen wundervollen Tempel darf ich nun gehen, so oft ich will. Viele wünschen sich hineinzugehen, haben aber kein Rekomment und kommen nicht hinein, haben kein Zeugnis von der Wahrheit, haben nicht Glauben genug, und der Herr sagt: Ich kenne Euch nicht.
Sei herzlich gegrüßt von Deiner Tante Louise Perrette“
Uns kennt der Herr auch nicht, und er wird uns wohl auch nicht kennen lernen. Und so werde ich nie in den Tempel der Mormonen gelangen.
Im Pioniermuseum
Im Pioniermuseum
Die letzte Pionierin hieß übrigens Hilda Erickson. Ihr ist ein ganzes Regal in dem Museum gewidmet. Die Pionierzeit endete mit dem Fertigstellen der Eisenbahn. Alle, die mit der Eisenbahn kommen, sind keine Pioniere mehr. Und die, die mit dem Flugzeug kommen, so wie wir? Die Accidental Tourists ?? Was sind wir???
Interessant finde ich die hauchdünne Ledermaske von Frau Erickson. Ein Stück Leder, in das Löcher für Augen, Nase und Mund geschnitten sind. Mit dieser Maske schützte sie sich auf dem Treck vor der Sonne. Solch ein Teil hätte ich jetzt übrigens auch nützlich gefunden. Ich habe uns vorhin noch einen superstarken Lichtschutz gekauft, denn mit unserem normalen sind wir immer noch hoffnungslos verbrannt … die Sonne hat hier eine unvorstellbare Intensität … und ich verbrenne mir sogar regelmäßig den Scheitel und die Hände … will mir gleich noch ein Haarband kaufen …
In Frau Ericksons Regal liegen auch etliche Klappern von Klapperschlangen, die sie selbst erledigte … diese Frauen … Quilte sticken und Klapperschlangen töten …
Und viele von ihnen waren Ärztinnen! Das war mir auch nicht so klar, dass Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika so viele Frauen als Ärztinnen arbeiteten …
Und in Utah bekamen sie schon das Wahlrecht, als in den anderen Staaten noch nicht einmal daran gedacht wurde. Es wurde ihnen von der US-Regierung dann aber auch schnell wieder entzogen, und sie mussten es sich später gemeinsam mit den Frauen aus den anderen Staaten wieder zurückerkämpfen. So ist eben doch nicht alles so einfach zu beurteilen. Wer hätte das gedacht von diesem Mormonenstaat? Und zu Zeiten, zu denen die Vielweiberei noch legal war? Die Verhältnisse sind doch nie so einfach, wie sie einem auf den ersten Blick scheinen. Am Ende der Ausstellungshalle gibt es zwei Türen, durch die es in weitere Räume geht … neben beiden hängt jeweils ein Spiegel … sie sind alt, und die Bilder, die sie wiedergeben, sind ein bisschen wellig, und in dem einen sehe ich schön schlank aus, und in dem anderen etwas dicklich und gedrungen. Da gehe ich dann extra noch einmal an dem ersten vorbei … das Bild, das man von sich im Kopf hat, ist schließlich das wichtigste, oder? Selbst wenn es ein Trugbild ist … und das ist es sowieso meistens … also, warum nicht ein schönes Trugbild herstellen?
Straßen in Salt Lake City
Straßen in SLC
Dirk erzählte, dass die Straßen in dieser Stadt so breit angelegt wurden, weil derjenige, der das Reißbrett plante, wollte, dass es einem großen Treckwagen, wie ihn die Pioniere hatten, möglich sein sollte, in einem Zug auf der Straße zu wenden … das ist also der Grund dafür, dass es hier mehr Straße gibt als Haus.
. . .
Man sieht nur sehr selten Graffitis in dieser Stadt. Ich denke gerade darüber nach, wodurch diese künstlich, akkurate Atmosphäre zustande kommt. Es ist nicht so einfach, es an irgendwelchen Einzelheiten festzumachen. Sehr lustig finden wir ja auch die orangefarbenen Fahnen, die in köcherähnlichen Behältnissen an den Fußgängerampeln bereitgestellt werden. Daneben ist eine ausführliche Handlungsanweisung angebracht. Also, zur eigenen Sicherheit soll man sich, wenn man die Straße überqueren will, solch eine orangefarbene Fahne schnappen und damit dann dieselbe schwenkend die Straße überqueren, natürlich nur, wenn Grün ist. An jeder Ampel versucht H mich zu überreden, dass ich das mal vormache, weil er ein Foto davon machen will, aber es ist so peinlich – das geht bei aller Liebe nicht. Er will auch nicht, dass ich solch ein Foto von ihm mache … wir werden das Fahnenschwenken wohl nur in unserem Kopf mit nach Hause tragen …
Im Garten in Salt Lake City
Im Kräutergarten in SLC
Ich sitze hier gerade im Kräutergarten, und zu beiden Seiten meiner Schaukel beginnt der Hopfen zu wachsen … er erinnert mich an den Hopfen, der früher die Terrasse meiner Großeltern umrankte, der wuchernde dunkelgrüne Hopfen. Je älter man wird, desto mehr Dinge gibt es, an die man sich erinnern kann. Eindrücke zu haben, ganz frische, die nicht mit Erinnerungen oder alten Gefühlen verknüpft sind, gibt es nur noch selten. Wie hätte wohl dieser Hopfen auf mich gewirkt, wenn ich ihn nicht jeden Sommer meiner Kindheit bei meinen Großeltern so sattgrün hätte wuchern sehen? Dieser kleine sprießende Hopfen hier hat sich zwischen zwei Betonplatten durchgequetscht – das kann der Hopfen gut – so wie sich auch die Erinnerungen überall hindurchbohren können.
Im Bryce Canyon
Im Bryce Canyon
Nun muss ich von unsrem ersten Abstieg in den Bryce Canon berichten. Wir hatten ja ein solches Glück mit dem Wetter. Und wie man das genießt, nach den langen, kalten und vor allem so dunklen Monaten dieses Winters in Deutschland. Vor allem diese ewige Dunkelheit … man lief doch schon ganz gebeugt durch die Welt, so drückend war der graue, dunkle Himmel. Es fühlte sich so an, als ob wir endlich auftauten und die Glieder endlich wieder ihre Steife verloren, als wir in den Frühling nach Utah kamen. Und hier besonders. Es ist ein so frischer Frühlingstag, wie man ihn sich nur wünschen kann. Und wieder ist der Himmel so blau und verbindet mich mit dem Außen und dem Innen. Und die Luft so kristallklar, dass sie mich fast berauscht. Ich habe noch nie solche Luft geatmet. In meinem Kopf entstehen leichte Schwindelgefühle. Es ist noch kalt, aber das macht nichts. Ich trage eine dicke Fleecejacke, die ich später in der Sonne ausziehen werde. Große Straßen führen durch den Nationalpark, und es gibt natürlich riesige Parkplätze. Auf einem dieser Parkplätze halten wir und gehen zum Rand des Canyons, der hier von einem Holzzaun umrandet ist. Wir stehen dort mit vielen, vielen anderen Touristen und blicken in die Tiefe und die Weite des Canyons. Zuerst nehme ich noch die Japanerin neben mir wahr, die ihre Strickjacke fest um sich zieht … und die anderen, die dort stehen … auch das japanische Geplapper, das in Wellen an- und abschwillt, so wie sich diese Reisegruppen auch immer wie Bienenschwärme bewegen. Doch nach wenigen Augenblicken, in denen ich in den Canyon sehe, habe ich alles um mich herum vergessen, sogar, dass dort welche mit Staubmasken und Regenschirmen stehen, um sich vor Viren und Sonnenstrahlen zu schützen. Wir stehen da mit gefühlten tausend anderen Menschen. So viele werden es zu dem Zeitpunkt noch nicht gewesen sein, es war ja noch verhältnismäßig früh … aber viele, wie gesagt. Und trotzdem werde ich weggetragen, kann die anderen um mich herum völlig vergessen, weil der Canyon alle Aufmerksamkeit in sich bündelt. Die leuchtende Felsenmärchenwelt.
Und in der Erinnerung ist alles still und reines Dasein.
Unser Geist fliegt wie ein Adler in den Canyon hinein, gleitet auf großen Schwingen hinein, dreht Kreise, wie in einem Traum. Wir sehen die vielen verschiedenen Formen der Felsen. Manche ragen hoch wie spitze Nadeln oder Säulen, andere bilden enge Schluchten, manche haben Einschnürungen … viele, ganz viele sehen aus wie versteinerte Märchengestalten. Tausende, abertausende von Geistern stehen dort und warten auf uns. Die rötlichen und gelblichen leuchtenden Schattierungen des Gesteins geben dem Ganzen eine solche Wärme … helle Stellen dazwischen sehen aus wie Zuckerkrusten … eine uralte Felsenwelt eröffnet sich … und sie scheint sich von hier bis zum Ende der Welt zu erstrecken … es ist so unwirklich … Dass es so etwas Schönes gibt! Ich erinnere mich daran, wie ich unsere Freundin Maureen früher einmal fragte, was ihr größtes Naturerlebnis gewesen sei. Und sie antwortete, am Rand des Grand Canyons zu stehen und die Sonne aufgehen zu sehen. Und ich dachte heimlich, na, das sagt sie jetzt doch nur, weil das so etwas typisch Amerikanisches ist, dass sie jetzt nicht die Niagarafälle nannte, war auch schon alles. Manchmal betont Maureen nämlich einfach ganz gern, wie toll Amerika ist, und wie sehr die Amis mit manchen Sachen doch richtig liegen, über die sich die Europäer vielleicht amüsieren. Und ich weiß noch, dass ich dachte, okay, das war bestimmt schön, aber ehrlich, was kann denn eigentlich sooo toll daran sein, mit Abertausenden anderen an einem Canyonrand zu stehen und hinunter zu schauen, dass man sagt, das sei das schönste Naturerlebnis aller Zeiten gewesen … ist doch lächerlich, dachte ich … das kann doch nichts sein im Vergleich zu einer Wanderung, meinetwegen an einer Steilküste am Meer entlang oder durch ein Gebirge, wo man die Natur für sich hat und richtig spürt, vielleicht noch an einen Wasserfall gelangt oder Schildkröten oder Hirsche zu Gesicht bekommt. Und nun stehe ich hier und bin sprachlos vor Glück, vor purem Glück, beim Anblick dieses Bryce Canyons. Und noch bevor wir hinunterwandern, ist mir klar, dass das hier das Schönste ist, was ich je gesehen habe … diese Felsenmärchenwelt … die so friedlich vor uns steht, wie sie schon seit so langer, langer Zeit dort steht … diese alten Steine, gestreift, wellig, höckrig, rau, gezackt und beutelig und ausladend und aufragend, einladend, gerade, gebeugt, mit Spitzen oder mit Kronen oder mit Speeren und Hämmern ausgestattet. Schlösser mit Türmen und Fenstern, die sich aneinanderreihen, vor denen steinerne Prinzessinnen und Ritter stehen und Feen und Trolle und Berggeister … und weise alte Frauen, die gebeugt zusammenstehen und zusammenhalten und sich beraten und uns bewachen … Geister … freundliche Geister … ja, immer habe ich das Gefühl, dass diese Geister hier freundlich sind, mich in ihre Welt aufnehmen und mir etwas sagen, etwas mitgeben wollen. Wer hätte gedacht, dass ich über ein paar alte Steine sagen würde, sie seien das Schönste, was ich je gesehen habe. Ein ähnlich überwältigendes Gefühl hatte ich vielleicht noch im Jeremiah-Johnson-Park, als ich unter den Baumriesen stand, in der absoluten Stille des Regenwaldes. Ist es der Überraschungseffekt, der es macht, dass ich mich so überwältigt fühle? Etwas zu sehen, das mit nichts Bekanntem Ähnlichkeit hat? An das es keine Erinnerungen und Erwartungen geben kann, sondern einen dastehen lässt mit offenem Mund wie ein Kind im Märchenwald. Oder wie wenn man zum ersten Mal im Leben die Arien der Königin der Nacht hört. Oder zum ersten Mal die weichen Lippen des geliebten Menschen auf den eigenen fühlt.
Ich weiß nicht, was es ist. H und ich stehen eine Weile herum. Zuerst halten wir uns an der Hand und stehen nur still da. Dann fängt er an, Fotos zu machen. Kneift sein Auge über dem Sucher zusammen, so wie er es immer macht, als ob er mit seinen Lidern den Sucher ganz umschließen möchte, um nicht weiter abgelenkt zu werden. Ich bin froh, dass er da ist und die Fotos macht, er kann beides, die Schönheit in sich aufsaugen und die Bilder machen. Sich gute Standpunkte und Ausschnitte überlegen und gleichzeitig das alles hier genießen. Ich könnte das nicht. Und ich freue mich, dass ich einfach nur hier stehen darf und in den Anblicken versinken und die Szenerie der leuchtenden Märchenwelt und dieses Gefühl der Überwältigung einfach genießen kann. Sprachlos, glücklich, ausnahmsweise eins mit mir selbst, im Hier und Jetzt. Es gibt nur mich und H und diese Märchenwelt, in die wir nun eintauchen … auf unseren großen, ruhigen Schwingen.
Wir gehen den Weg in den Canyon hinunter. Ein paar Japanerinnen in Sandalen und auch einige ältere Schottinnen versuchen es auch ein Stück weit. Nun wird der Weg zwar nicht sofort wirklich schwierig, aber ist doch ein bisschen steinig und recht steil … da geben die leicht Beschuhten schnell auf. Was mir für sie Leid tut, weil ihnen so viel entgeht, aber für mich tut es mir nicht Leid. Denn es gibt ohnehin noch genug andere, die so wie wir das richtige Schuhwerk tragen und mit uns hinunter wandern, zuerst im großen Pulk, dann verteilt man sich ein bisschen, weil man in unterschiedlichem Tempo geht. Dennoch werden wir nicht viele Momente erleben auf dieser Wanderung, in denen wir uns ganz allein in der Natur fühlen, was aber wiederum nicht ganz so schlimm ist wie anderswo, weil angesichts dieses Erlebnisses, wie schon oben am Rand, unser Kopf die anderen Leute meistens ausblendet… und die Erinnerung sowieso.
Ein Canyon ist ja ein bisschen eine verkehrte Welt. Berge erheben sich normalerweise vom Boden aus. Am Canyon ist es so, dass sich die Welt unterhalb unseres Bodens auftut … eine Bergwelt, in die wir von oben hineinblicken … wie ein Gott??? Warum denkt man eigentlich immer an einen Gott, wenn man ausnahmsweise einmal einen erhabenen Standpunkt hat? Weil der Gott in unserer Vorstellung immer noch Himmel wohnt? In dem Himmel über uns?? In diesem wunderbaren blauen Himmel??? Glücklicher Gott!!!
Felsengeister
Felsengeister
Warum freuen wir uns alle so über diese Felsengeister? Alle suchen nach bekannten Formen, wie beim Wolkenlesen. Häufig sehen wir dasselbe in den Steinen verborgen. Der Hammer von Thor und Queen Victoria sind leicht zu erkennen, wenn man davor steht. Für die, die es nicht sofort erkennen, sind Schilder aufgestellt, damit sie sie auch ja nicht verpassen. Aber ich mache mir eigentlich lieber meine eigenen Gedanken und sehe meine ureigenen Feen und Geister. Wir tun so, als seien diese Felsformationen Zeichen aus längst vergangener Zeit. Dabei kannte zu der Zeit, als diese Formen entstanden, noch keiner die Geschichte von Thor, geschweige denn von Queen Victoria. Es lebte noch nicht einmal jemand, der sich solche Gedanken hätte machen können. Wofür stehen diese Zeichen also? Für etwas, was in uns selbst vorgeht? Kommen wir, indem wir in die Niederungen der Erdgeschichte steigen, unsren eigenen Tiefen, Wünschen und Abgründen näher? Ist es das, was so faszinierend ist?
Die Felsen und die Geister sind deswegen entstanden, weil es geregnet hat und gefroren. Das Wasser, das in die Hohlräume gelaufen war, dehnte sich aus, als es gefror, und sprengte Teile der Felsen weg oder aus ihnen heraus. Andere Formen sind schlicht durch den stetigen Regen ausgewaschen. Das erklärt das Nebeneinander von zackigen, spröden und runden, glatten Formen. Die verschiedenen roten, gelben, braunen, rosafarbenen und violetten Schattierungen kommen von den mineralischen Einlagerungen in die unterschiedlichen Schichten. Im Grunde sind sie alle Erinnerungen an die Zeit ihrer Entstehung. Sie erzählen etwas über Zeiten, die lange, Millionen von Jahren zurückliegen. Das ist es aber nicht, was die Menschen hier interessiert. Sie suchen nach Thors Hammer und nach Queen Victoria. Sie sehen Märchenschlösser und viele, viele verschiedene Gestalten. Manche Hoodoos sind so groß wie ein Mensch, andere so hoch wie ein zehnstöckiges Gebäude. Sie können als säulenartige Felsnadeln dastehen oder eben als Figuren, die eine Seele zu haben scheinen. Eine scheinbar belebte Natur, die unbelebter kaum sein könnte, wenn man allein den Stein betrachtet. Ist es also mehr eine Begegnung mit uns selbst, unseren Wünschen, unsrer Phantasie, unserem Inneren, das sich wie das Innere der Erde vor unseren Augen nach außen kehrt? Ich wünsche mir scheinbar, immer von vielen guten Geistern umgeben zu sein, die mich beschützen, die mir sagen, was richtig ist, und mich trösten, wenn ich traurig bin oder Fehler gemacht habe. Und hier finde ich einen Ort mit all diesen guten Geistern. Und ich begrüße sie freudig und fühle mich mit ihnen verbunden. Höre ihr Flüstern. Sehe ihr Lächeln. Ihr Kopfschütteln vielleicht auch. Sie wiegen sich im Sonnenlicht und stehen doch so starr und fest und verlässlich immer an derselben Stelle.
So wird es uns vorgegaukelt, dass sie unveränderlich seien. Aber in Wirklichkeit ist auch das Aussehen dieser Gemeinschaft stetigen Veränderungen unterworfen. Ganz langsamen zwar, aber es regnet jedes Jahr. Und es friert in jedem Winter. Und in jedem Jahr tun Wasser, Kälte und Wind ihre Arbeit. Und die Hoodoos und die ganze Landschaft verändern sich immer ein bisschen mehr. Für uns kaum merkbar, aber wenn man jedes Jahr käme und ein paar Lieblingsstellen hätte, könnte es passieren, dass sie irgendwann etwas anders aussehen. Es gibt Hoodoos, die sehr langlebig sind. Sie besitzen meistens eine Kappe aus dem magnesiumreichen Kalkstein Dolomit, der sie vor weiterer Erosion schützt, weil er schwer wasserlöslich ist. Aber auch das wird die weitere Erosion dieses Canyons, pardon, Amphitheaters nicht verhindern. Es ist nur ein Augenblick der Erdgeschichte, den wir hier miterleben, auch wenn es uns so ganz anders erscheint. In einer Million Jahren wird es den Bryce Canyon so wahrscheinlich gar nicht mehr geben. Und diese Erkenntnis, dass nicht einmal diese Steinwelt, die es doch scheinbar schon immer gegeben hat, ewig sein wird, schmerzt ein wenig. Ich weiß zwar, dass es für mich, mein kleines Leben keine Rolle spielt, ob diese Traumgestalten in einer Million Jahren noch leben werden … aber ihre Vergänglichkeit macht mich trotzdem ein bisschen traurig. Ich fände es schön, wenn die guten Geister für immer dort stehen würden, Ausgeburten der Erde und der Phantasie, Zeichen aus vergangenen Zeiten und dem Seelenleben, Erinnerung daran, dass wir Geschöpfe sind, die Schönheit, Phantasie, Erinnerungen und die Kunst der Natur zum Leben, zum Menschsein brauchen, zum Überleben sogar, es rettet uns in andere Sphären, dieses Vermögen.
Als ich H diese Gedanken mitteile, sagt er, das habe er zuerst auch so empfunden, dass es doch schade sei, dass die Erosion immer weiter fortschreiten wird und die schönen Formen alle irgendwann verschwunden sein werden. Aber dann habe er sich klar gemacht, dass es den Canyon, so wie wir ihn jetzt sehen, gar nicht erst gäbe, wenn es nicht schon lange diese Erosionen und überhaupt ständige, fortschreitende Veränderungen gegeben hätte. Und uns selbst am Ende auch nicht. Dann gäbe es hier vielleicht eine urzeitliche langweilige Seenplatte, auf die kein anderer als ein paar alte langweilige Götter hinabblicken könnten.