Im Badezimmer fliegen nun, wie irgendwann in jedem Frühjahr flaumige Puscheln von irgendwelchen Bäumen herum. Wenn man länger wartet, sammeln sie sich in der Badewanne, oder auch draußen unter den Bäumen, so dass es von Weitem so aussieht, als ob es unter ihnen geschneit hätte. Die Kastanien im Hof haben nun fast alle ihre Blätter, aber in diesem Jahr nur sehr wenige Blüten.
Im Park ist das frische Grün nun auch allerseits explodiert. Das schönste Grün des Jahres. Schon in kurzer Zeit wird ihm die erste Staubschicht anhaften. Es sind immer nur sehr kurze Momente, die des frischen Grüns, aber sie kommen regelmäßig wieder, worin ein gewisser Trost liegt. So ist die Freude nicht ungetrübt, aber auch die Trauer nicht ohne Hoffnung.
Beim Fitnesskurs im Park bin ich nun gerade immer falsch angezogen. Das Wetter ist sozusagen „nicht nach ihm und nicht nach ihr“, die angerauten Winterleggings zu warm, das pinkige Laufshirt zu dünn.
Und zu Hause habe ich gerade die dicken Wollsocken, die meine Großmutter früher für mich strickte, in ihr Sommerlager verfrachtet.
Die Socken wärmen mir seit vielen, vielen Jahren jeden Winter meine kurzen, breiten Füße. Und so haben sie es auch im gerade vergangenen Winter gemacht.
Ich glaube, meine Großmutter war die einzige, die meine kurzen, breiten Füße schön fand.
Und sie wärmte und massierte sie mir mit ihren kräftigen Händen, wenn wir zusammen auf dem Sofa saßen und „Sissi“ guckten oder „Der eiserne Gustav“ oder „Die Feuerzangenbowle“. Ich durfte meine kleinen, breiten Füße in ihren Schoß legen, und sie massierte sie für mich. Und dann sagte sie unausweichlich, wirklich jedes Mal – die hätte ich von ihr, diese kleinen breiten Füße. Und das tröstete mich immer ein bisschen.
Denn wie beneidete ich meine Freundinnen um ihre schmalen Füße! Meine dagegen waren nicht nur breit und kurz. Obendrein besaßen sie auch noch einen hohen Spann. Sandalen zu finden, war fast unmöglich. Ich kam mit den breiten Füßen nicht weit genug hinein, was einfach nur beknackt aussieht, wenn die Sohle dann vorne mehrere Zentimeter übersteht. Ebenso groß war das Problem mit Stiefeln, wenn sie einen einigermaßen engen Schaft hatten, und das hatten sie früher meistens, und keinen Reißverschluss. Mittlerweile gibt es ja sehr viele Stiefelmodelle mit Reißverschlüssen. Gottseidank. Überflüssig, zu erwähnen, dass ich natürlich Stiefel und Sandalen besonders mag. Der Mensch will ja immer das, was nicht so einfach zu haben ist.
Meine Oma konnte aber nicht nur Socken stricken. Sie ließ mich, als ich klein war, beim Abwaschen auf ihren Füßen stehen, wobei ich mich an ihren Beinen festhielt, und tanzte und sang mit mir. Das Wandern ist des Müllers Lust. Fuchs, Du hast die Gans gestohlen. Grün, grün, grün sind alle meine Kleider. Wir sangen diese Lieder aus vollem Hals und völlig schräg, weil wir beide keinen Ton richtig treffen und uns manchmal auch nicht unbedingt an den Text erinnern konnten, aber es hat unheimlichen Spaß gemacht. Und es hat uns ja sonst keiner gehört. Wir waren in diesen Momenten sehr glücklich. Ich zumindest. Ich glaube, meine Oma auch.
Sie konnte einfach alles. Fahrräder reparieren, zum Beispiel. Lampen aufhängen. Bilder aufhängen. Das Land umgraben. Ausstehende Rechnungen eintreiben.
Sie bröckelte Schwarzbrot in Milch und streute Zucker darüber, wenn ich mal wieder keinen Appetit hatte. Das rutschte komischerweise immer.
Sie glaubte mit mir an Luise, meine imaginäre Freundin, und sie stellte auch für Luise eine Teetasse mit auf den Tisch. Niemals hat sie auch nur ein Wort des Zweifels über Luises Existenz von sich hören lassen.
Von meiner Oma habe ich gelernt, dass ein Mädchen alles KANN. Es gibt nichts, was es nicht kann. Wenn nicht sogar besser kann als jeder Junge. Ich habe von ihr auch gelernt, dass ein Mädchen nicht alles TUT. Ob ich ihr da heute in jeder Hinsicht Recht geben würde, ist nun fraglich . . . wahrscheinlich eher nicht. Aber solche Fragen und Antworten sind auch immer den jeweiligen Zeiten geschuldet.
In ihren Augen waren Frauen die besseren Menschen. Männer fingen Kriege an. Und die Frauen mussten es ausbaden. So einfach war das. Und das sah ich natürlich sofort ein.
Und schöner als Frauen waren die Männer nun auch weiß Gott nicht . . . mit ihrem eigenartigen Haarwuchs . . . eher wieTiere, die sich rasieren.
Frauen waren schlicht die schönere Version des Menschen.
Es hat mich dann umgehauen, so überraschte und schockierte es mich, als ich in die Schule kam und bemerken musste, dass Mädchen beweisen mussten, das sie genauso gut rechnen können wie Jungs. Ich hatte nicht erwartet, dass das eine Frage sein könnte.
Quadratisch, praktisch, gut – das war der Werbespruch für Ritter-Sport-Schokolade. Und wir übernahmen ihn für unsere Füße. Sogar unsre Zehen hatten eine leicht eckige Form. Heute habe ich mich mit den eckigen Füßen ausgesöhnt. Meine Lieblingsoma machte immer noch lange Spaziergänge, bis kurz vor ihrem Tod. Und meine Füße haben mich schon an so viele schöne Orte auf dieser Welt getragen, diese kleinen eckigen, breiten Füße, mich auf so vielen Wanderungen getragen, haben so schön mit mir getanzt . . . Wie könnte ich da mit ihnen noch hadern?
Im nächsten Winter werde ich die Wollsocken von meiner Oma wieder aus dem Sommerquartier holen, sie werden mir nicht nur die Füße wärmen. Denn ich vermisse meine Lieblingsoma, immer noch, nach so vielen Jahren, und auf eine besondere, verborgene Weise ist sie immer noch bei mir. Das ist alles immer noch in mir. Aber ich bin gleichzeitig auch eine andere. Das ist wahrscheinlich einfach so. Immer.
Und meine Füße tragen mich nun durch meinen geliebten Wald. Die Bäume, die gerade ihre Puscheln in die Welt trudeln lassen, wo sie sich auf der Wiese und auf dem See niederlassen und einen Teppich bilden, das sind übrigens Pappeln, habe ich mir sagen lassen. An und für sich sind Pappeln nicht unbedingt meine Lieblingsbäume, aber jetzt im Frühjahr, wenn sie blühen, dann verleihen ihnen die fedrigen Dolden etwas Märchenhaftes, wie ein Tanzkleid – und das gefällt mir natürlich sehr.
Die Frühjahrsabendsonne schickt ihr immer noch etwas kühles Licht, dass alle Konturen so scharf macht, durch das Unterholz und die Schneisen im Wald und lässt die Wege leuchten und das Grün noch einmal erstrahlen, bevor sie für heute untergeht.