Die Magie der Fremdheit

Seit über 20 Jahren grüßten wir uns sehr freundlich, die Frau aus dem Nachbarhaus und ich. Sie hat ein sympathisches Lächeln, und ihre ganze Art und Erscheinung ließen mich erwarten, dass ich sie mögen würde und nichts dagegen hätte, sie näher kennenzulernen. Aber irgendwie ging der Kontakt nie über Lächeln, Winken oder Grüßen hinaus. Im Urlaub trafen wir sie und ihren Mann zufällig auf einer Strandpromenade, weit weg von zu Hause. Und wieder ergriff keine von uns die Gelegenheit, ein gemeinsames Kaffeetrinken oder ähnliches vorzuschlagen. Aber wir sprachen eine Weile zusammen, über dies und über das. Und es hatte etwas Vertrautes und etwas Fremdes und vielleicht etwas Geheimnisvolles. Seitdem plauderten wir immer ein bisschen zusammen, wenn wir uns zufällig begegneten, auf der Straße, von Balkon zu Balkon, beim Einkaufen. Wir tauschten dabei aber niemals unsere Namen aus.

In der vergangenen Woche nun traf ich sie wieder einmal zufällig in der Stadt. Und nach einer Weile fragte sie, ob ich noch etwas Zeit hätte, dann könnten wir doch einen Kaffee trinken statt hier die ganze Zeit rumzustehen.
Wir gingen ins Café, saßen an diesem warmen Tag draußen auf einem schönen Platz im Schatten, ein bisschen wie im Urlaub, und wir quatschten über eine Stunde lang, und wir verstanden uns in jeder Beziehung gut. Auch über die Wahlen haben wir uns unterhalten, aber nur ganz leise und ganz kurz, und auch auch da waren wir einer Meinung, nämlich, dass unser Land in eine Katastrophe schlittert. Man mag ja gar nicht mehr darüber nachdenken, geschweige denn reden. Wir erzählten uns alles Mögliche, auch recht private Dinge. Es war nicht wie mit einer alten Freundin, sondern eher wie mit einer verwandten Seele, die gerade von einem anderen Stern neben mir gelandet war, und wir mussten uns jetzt erst einmal alles erzählen, um uns kennenzulernen. Das war schön, und uns umgab ein Zauber.

So hatte mich der Eindruck, den ich die ganzen Jahre hatte, doch nicht getäuscht: sie war eine Frau, mit der ich mich gut verstehen könnte.

Ich frage mich, wie das mit den Eindrücken von anderen Menschen ist, von denen man eigentlich nichts weiß. Wie kommt man zu einer Beurteilung? Und man liegt ja auch nicht immer richtig.

Noch interessanter ist es vielleicht mit Liebesbeziehungen. Man fängt sie ja meistens an, bevor man sich richtig kennengelernt hat.

„Wir lieben nie jemanden, nie. Wir lieben allein die Vorstellung, die wir von jemandem haben. Unsere eigene Idee, uns selbst also, lieben wir.“ Das ist ein Zitat von Fernando Pessoa, und ich würde ihm für die Anfänge von Bekanntschaften vielleicht zustimmen, jedoch nicht für lange Beziehungen, aber zumindest für die erste Zeit einer Liebe. Beim Verliebtsein. Dann kommen nach und nach die kleinen und großen Enttäuschungen, dass er/sie doch ganz anders ist als gedacht. Und hinzu kommt natürlich, dass wir uns in der Zeit der „Anbahnung“ sehr viel mehr Mühe gegeben haben, uns gegenseitig zu gefallen. Das heißt, man könnte sagen, es liegt sogar eine absichtliche Täuschung vor. Wie kommt es, dass wir dann, nach all diesen Enttäuschungen zusammenbleiben? Ich habe mich ja damals auch ein wenig verstellt. Bin, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hochgerast. Habe so getan, als sei ich eine Frohnatur. Und alle, die mich ein bisschen kennen, wissen, dass es vorkommen kann, dass ich froh und übermütig bin, aber dass es doch eher die Ausnahme ist. Doch war das wirklich eine vorsätzliche Täuschung? Vielleicht war ich damals, in seiner belebenden, prickelnden Gegenwart, tatsächlich eine kleine Frohnatur? Hat er das aus mir gemacht? Oder war es einfach die normale Verrücktheit auf der Wolke des Verliebtseins . . . ??? Das werde ich wohl nicht herausbekommen. Vielleicht aber liegt hier die Antwort auf die Frage. Wir bringen gegenseitig etwas aus uns hervor, das liebenswert ist, das wir uns wünschen zu sein. Froh zu sein, statt immer depressiv und traurig. Und was habe ich in ihm ausgelöst? Er hat sich in meiner Gegenwart bestimmt stark gefühlt, und mutig. Was er nicht immer ist, wenn ich es recht bedenke. Aber er ist mutiger als ich, auf jeden Fall. Vielleicht schälen wir gegenseitig das Gute aus uns heraus? Bringen Saiten zum Klingen, von denen wir nichts ahnten? Oder nichts davon ahnten, dass wir sie herauskehren können? Hat die Liebe tatsächlich mehr mit uns selbst zu tun als dem/der Geliebten? Ich weiß es nicht. Aber es ist gut, und es ist zauberhaft.

Und mit Freundschaften und Bekanntschaften ist es vielleicht ähnlich, nicht ganz so intensiv, weil man ja nicht tagtäglich zusammenleben will, aber ähnlich. Ist es in einer guten Freundschaft vielleicht auch so, das wir das Beste aus uns herausholen? Ich denke, vielleicht dann, wenn wir nicht ständig Erwartungen haben. Dann ist es ein schönes Miteinander, wie dieses überraschende Kaffeetrinken.

Wie Patrick Modiano schreibt: „Aber schließlich sind die wahren Begegnungen solche zwischen zwei Menschen, die nichts voneinander wissen, selbst nachts nicht, in einem Hotelzimmer.“

Erwartungen. Sind sie es nicht, die alles schwer machen? Auch in der Liebe? Ich wünschte mir manchmal sehr, einfach loslassen zu können. Manchmal habe ich den Eindruck, die Erwartungen hüllen uns ein wie ein dicker Nebel, und wir sind nicht dazu in der Lage, die Wirklichkeit zu sehen. Smog. Erwartungen sind wie Smog, durch den wir wandern.

Aber manchmal erfüllen sie sich doch auch aufs Schönste, wie beim Kaffeetrinken mit der Nachbarin. Wir wissen nun immerhin unsere Vornamen. Und nächstes Mal tauschen wir dann vielleicht sogar unsere Telefonnummern aus. Aber vielleicht erhalten wir uns diese magischen, von allen Erwartungen und Verpflichtungen freien Begegnungen auch noch für eine Weile länger. Und bringen diese kleinen Lichtmomente in unseren Alltag. Ein Lächeln, ein Grüßen, ein bisschen Verstehen.

Nichts

„Ein Loch ist dort, wo etwas nicht ist“, schrieb Kurt Tucholsky.
Und ich frage: und ein Nichts, was ist ein Nichts?
Ist das Nichts ein Loch, das keinen Rand hat?
Aber in ein Loch kann man vielleicht hineingreifen, man kann hindurchsehen. Es gibt ein Diesseits und ein Jenseits des Lochs.
Ins Nichts kann man nicht hineingreifen. Es bietet kein Diesseits und kein Jenseits.
Ein Nichts kann also kein Loch sein, weil wenn es ein Loch wäre, hätte es einen Rand, eine Grenze, aber das Nichts hat nichts, keinen Rand, ist grenzenlos.
Die Frage ist: Kann man mit dem Nichts ein Loch stopfen? Oder ist es dort schon drin? Immer? Und dann: Wo geht es hin, wenn man das Loch mit etwas stopft, das nicht nichts ist? Mit Käse zum Beispiel oder mit Stopfwolle. Ja, wo geht es hin? Dorthin, wo auch der Schmerz hingeht, wenn er geht? Der ja nie ganz geht, wie wir wissen.
Ist auch das Nichts immer und überall? Und irgendwo und nirgendwo?
Auf Sächsisch heißt es übrigens Nüscht, was viel schöner klingt als nichts. Nach mehr als nichts.
Dabei zählt es keinen einzigen Buchstaben mehr.
Es schwingt jedoch ein Gefühl mit – und das macht das Wort irgendwie schwerer. Oder die Geschichte.
Ich glaube, wir suchen immer den Rand.

Erinnerungen

Ein blöder Tag. Alles ging schief. Ich bin stinksauer auf verschiedene Leute, die es schaffen, Probleme auch noch zu verschlimmern. So vergeht der Nachmittag, und ich bin so aufgewühlt, dass ich nichts Ordentliches mehr zustande bringe. Ich denke auch, besser, den Blutdruck nicht jetzt kontrollieren.

Dabei weiß ich natürlich, dass es viel Schlimmeres auf dieser Welt gibt. Die Kriege, die Klimakatastrophe, die Rechten. Das macht es uns wirklich schwer, nicht den Mut zu verlieren.

Die Erde ist manchmal kein schöner Ort.

Schließlich setze ich mich auf das Fahrrad und fahre zu dem neuen Sportkurs im Park, der aus ausgiebigem Walken und anschließenden Übungen besteht. Es kommt ein bisschen Freude in mir auf, dass ich wieder mit dem alten Hollandrad meiner Mutter fahren kann. Ich fahre die „Gazelle“, seitdem meine Mutter gestorben ist, und hänge sehr daran.

Vor zwei Wochen nämlich – krack – blieb die Gangschaltung stecken. Mein Herz sank tief. Besonders, als mir in dem jung-dynamischen Radgeschäft, wo ich normalerweise immer sehr freundlich behandelt wurde, auch als „Ü-30“-Mensch mit nicht ganz so dynamischen Fahrrädern, ein noch mehr als bisher jung-dynamischer Lulatsch mit überheblicher Miene sagte, dass es für dieses alte Rad keine Ersatzteile mehr gebe, und außerdem würden sie sowieso keine Hollandräder mehr reparieren. Als sei es unter seiner Würde. Er wünschte mir dann noch viel Glück dabei, eine andere Werkstatt zu finden. Danke für gar nichts.

Trotz der verschwindenden Hoffnung suchte ich und fand eine Werkstatt, wo man mir die Gangschaltung reparierte und notfalls auch Ersatzteile hätte bestellen können, die es durchaus noch gibt! Ich war überglücklich!

Und von diesem Gefühl stieg nun etwas auf, als ich zu meinem Sport fuhr.

Ich habe das Rad nicht gefahren, solange meine Mutter noch lebte. Ich glaube, es hätte sie sehr traurig gemacht. Denn sie ist so gerne Rad gefahren. Jeden Tag, solange das ging. Irgendwann war es leider nicht mehr möglich.

Wenn wir später spazieren gingen, sie mit dem Rollator, und ein Fahrradfahrer an uns vorbeisauste, blickte sie ihm sehnsüchtig nach und sagte: „Ach, noch einmal wieder Fahrrad fahren zu können!“

Ich hänge viele Erinnerungen an Dinge. Das machen nicht alle so, das weiß ich. Ich habe eine Freundin, die alles, was keinen direkten Nutzen hat, sofort wegwirft. Ihre Wohnung sieht natürlich viel aufgeräumter aus als meine, die vollgestopft ist mit Sachen, die ich nicht loslassen kann. Diese Dinge haben für mich aber etwas Lebendiges, ich weiß nicht, warum. Und sie sind wie Knoten in Taschentüchern, und wenn ich darüber sinniere, kommen mir Bilder von früher, manchmal Gedanken und neue Erkenntnisse über die Vergangenheit, auch über die Menschen, die daran hingen – andere Vorstellungen. Sie werden ein bisschen lebendig. Und ich fange an, etwas anderes zu verstehen. Manchmal schmerzt es, manchmal erlöst es.

Auch das Rad gab mir noch einmal einen anderen Blick. Es hat eine 5-Gang-Schaltung, aber meine Mutter fuhr immer nur im dritten Gang. Darüber haben wir uns in der Familie ein bisschen amüsiert. Typisch Mutter, verweigert sich jedweder „Technik“. Ein bisschen stimmte das vielleicht, ein bisschen mehr wahrscheinlich auch.

Aber jetzt entdeckte ich beim Fahren dieses Rades: sein dritter Gang ist ein echter Wundergang! Das Rad macht es einem so einfach. Man sitzt bequem und aufrecht, und es tritt sich in diesem Gang so leicht! Man kommt zwar nicht sehr schnell vorwärts, aber man muss sich auch überhaupt nicht anstrengen. Ich dudel damit so durch die Landschaft oder die Stadt und kann Gedanken nachhängen, träumen, nach rechts und links gucken. Wunderbar. Und ich stelle mir dann meine Mutter vor, wie sie früher durch die Gegend dudelte und sich so gut dabei fühlte. Dann fährt sie ein bisschen mit mir.

Wenn ich mich nicht mehr erinnere, verliere ich einen Teil von mir selbst. So empfinde ich es. Das scheint gerade mein Thema zu sein. Liegt wahrscheinlich daran, dass es nicht sehr lange her ist, dass meine Mutter starb.

Und ich hatte den Gedanken, dass wir Menschen uns deshalb vielleicht immer wieder die alten Geschichten erzählen müssen. Um sie nicht zu verlieren, um uns nicht zu verlieren. Ich habe sie immer gern gehört, von den Großeltern, den Eltern, den Tanten. Und manchmal kann der Mensch etwas daraus lernen. Oftmals auch nicht, wenn man die ganz große Geschichte bedenkt. Immer noch Kriege, immer noch Unvernunft, immer noch so viele Menschen, die anderen ihre Lebensart aufzwingen wollen. Dabei hätten auch sie die Chance gehabt, etwas zu lernen, wenn sie einmal richtig zugehört hätten.

Das Laufen durch den Park strengt mich an, aber ich merke auch, dass es mir gut tut. Ich erzähle meiner Freundin, die neben mir läuft, dass meine Mutter einmal in diesem Park von einem alten Mann angebaggert wurde, als wir hier spazieren gingen. Auch eine Erinnerung. Meine Freundin lacht.

Zum Abschluss des Tages müssen wir uns für die Dehnungsübungen auf das Handtuch legen, ausgebreitet auf einer gemähten Wiese. Sie ist bedeckt mit den trocknenden abgeschnittenen Grashalmen, die sich kurz vor dem Heustadium befinden. Mich juckt es schon bei dem Gedanken an Heu und Insekten . . . kann die Pusteln schon sprießen sehen. Bei einer Übung müssen wir uns auf den Rücken legen und die Arme zu beiden Seiten ausstrecken (auf der Heuwiese!), wie Engel.

Ich blicke, dort auf der Wiese liegend, in einen Baum. Dahinter ziehen fedrige Wölkchen am blauen Abendhimmel vorbei. Und es ist so still. Harmonisch. Ein kleiner Stillstand, bevor wieder etwas anderes kommt. Es ist die Spätsommerstille im Park. Nach der Sommerhitze, und vor dem Herbst. Ein Moment der Ruhe. Für das hier, hier auf der Wiese zu liegen, in die Baumkrone und den blauen Himmel zu blicken . . . alles andere zu vergessen, sogar, dass mich jetzt gerade wahrscheinlich irgendwelche Insekten beißen . . . die Schönheit dieses Augenblicks . . . dafür allein hat sich dieser Tag gelohnt! Die Erde könnte so ein wunderbarer Ort zum Leben sein.

Abraxa

Die Skulptur des Bettlers von Ernst Barlach, die im Kreuzgang vom Münsteraner Dom steht, hat mein Herz berührt. So machen es Kunstwerke oft mit mir. Ich bin ganz gefangen und stehe im Hier und Jetzt, im Bann des Kunstwerks. Vergesse die Sorgen. Bin trotzdem ganz bei mir. Oder gerade deswegen.

Barlach hat aus dem Bettler tatsächlich einen Heiligen gemacht. Er strahlt Würde aus, er strahlt Schönheit aus. Er fängt den Blick schon von Weitem. Dieser Schöne, dieser Suchende, dieser Heilige. Er berührt mich, weil ich mich vielleicht in vielerlei Hinsicht auch als Bettlerin fühle. Arm an Wissen. Arm an Weltvertrauen. Und auf jeden Fall fühle ich mich immer als Suchende. Mitten ins Herz, trifft dieser heilige Bettler, dieser schöne, strahlende Suchende. In seiner Schwachheit geht trotzdem Kraft und Würde von ihm aus.
Er zieht mich in seinen Bann.

So geht es mir eine Woche später wieder mit einem ganz anderen Kunstwerk. Dieses Mal ist es das Bild von einem kleinen Raben. Wir waren nach Jena gefahren, weil wir zu einer Vernissage eingeladen waren. Und da traf ich auf den kleinen Raben.

Raben, Krähen, Rabenvögel begleiten mich schon sehr, sehr lange, ich will nicht sagen, mein Leben lang, aber vielleicht, seit ich bewusst denken kann. Meine Großmutter nannte sie Unglücksboten, die Krähen, die über unseren Garten zogen. Und meine Mutter sprach oft davon, dass „nachts die schwarzen Vögel kommen“.
Schwarze Vögel bedeuteten in meiner Kindheit nichts Gutes. Sie waren „Todesvögel“ oder „Unglücksboten“. Oder symbolisierten schwarze Gedanken, die einen nachts verfolgten, wenn man nicht schlafen konnte. Ich hatte also immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich Krähen sah oder ihre krächzenden Schreie hörte. Ich lasse mich immer schnell von abergläubischen Gedanken anstecken. Aber die Krähen faszinierten mich trotzdem irgendwie. Ich mochte ihr schwarz-glänzendes Gefieder. Ich mochte ihre Art zu fliegen. Sie fliegen nämlich so anmutig wie Greifvögel. Mit einer Art von elegantem Gleiten, Souveränität und Gelassenheit.

Ihren schlechten Ruf haben die Raben hierzulande wohl erst im Mittelalter verpasst bekommen. Da wurden sie den verfolgten Hexen zugeordnet. Er kam andererseits auch wohl daher, dass sie Aas fressen.

Bei den alten Germanen und vorher bei den alten Griechen waren die Raben eher gut angesehen. Odin hatte zwei Raben, die er aussandte, dass sie ihn über die Vorgänge in der Welt informierten, und er konnte sich sogar in einen Raben verwandeln.

Dass sich Menschen in Raben verwandeln, kommt in Sagen und Geschichten oft vor. Besonders in Erinnerung ist es mir aus „Krabat“.

Ausgerechnet in die schwarzen Vögel. Warum verwandeln sich die Menschen oder die Zauberer oder Götter wohl ausgerechnet in Rabenvögel? Ich habe es nicht herausfinden können. Ich nehme an, dass es bestimmt damit zusammenhängt, dass diese Vögel auch als äußerst intelligent gelten.

Einen bisschen besseren Ruf bekamen sie, als der Begleiter der kleinen Hexe erfunden wurde. Abraxas. Der schlaue Rabe Abraxas. Ich erinnere mich, dass ich es schön fand, dass dieser unheimliche Vogel, der mir überall begegnete, so positiv beschrieben wurde in dem Buch von Ottfried Preußler.

Heutzutage haben Hexen ja auch nicht mehr dieses miese Image. Im Gegenteil, Hexen gelten als weise. Magische Kräfte werden ihnen vielleicht nicht mehr zugeschrieben, höchstens Wissen über Kräuterheilkunde oder Chakren oder den Einfluss der Sterne auf unser Leben. Zaubern können sie auch nicht mehr, jedenfalls nicht so einfach – Lirumlarumlöffelstiel, und jetzt bin ich Walross, oder so. Schade eigentlich – das bleiben verführerische Gedanken. Aber einen weisen Begleiter wie den Abraxas – den kann man sich doch nur von Herzen wünschen, oder?

Im Gedicht „Der Rabe“ von Edgar Allen Poe ist der Rabe jedoch kein netter Begleiter, sondern treibt den Trauernden in den Wahnsinn. Das ist wieder negativ.

Für mich bedeuteten diese Vögel ja auch jahrelang Angst.
Die Sache mit der kleinen Hexe und Abraxas war mir leider entfallen.

Dass Raben oder Krähen eine positive Bedeutung haben konnten, begegnete mir erst später in einem Film wieder. In „How to make an American Quilt“ wird in einer Geschichte erzählt, wie eine Krähe einer Frau den Weg zu ihrem späteren Ehemann zeigt, sie zu ihm, zu ihrem Glück führt. Das gefiel mir sehr.

Seitdem war mir nicht klar, ob es etwas Gutes oder Schlechtes zu bedeuten hatte, wenn eine Krähe mich im Park ein Stück begleitete – manchmal tun sie so etwas. Oder wenn mir eine sehr nahe kam. Bedeutete es nahendes Unglück? Oder dass ich meinem Lebensziel, was immer das war, näher kam, mit dem, was ich gerade machte.

Im Arches Nationalpark in Utah sahen wir damals einen riesigen Raben ganz aus der Nähe – er war einfach wunderschön.

In der Mythologie der indigenen Völker Nordamerikas sind die Raben sehr geschätzt. In manchen gelten sie als Schöpfer der Welt, haben Sonne, Mond und Sterne für uns an den Himmel gehängt. Ist das nicht ein wunderbares Bild?

Ein heißer Tag im August in Jena. Die Ausstellung findet in einem alten Nebengebäude der alten Schillerkirche statt. Sie wird so genannt, weil Schiller hier 1790 heiratete. Ein geschichtsträchtiger Ort also. Mitten in der Stadt eine fast ländliche Umgebung. Im Haus biegen sich die alten Balken, hatte ich das Gefühl. Ich glaube, in Wirklichkeit waren sie nicht krumm. Und einige davon waren neu, denke ich. Man muss hier und da ein paar Stufen gehen, der Raum liegt auf verschiedenen Ebenen und ist ein bisschen verwinkelt. Das gibt dem Ganzen noch mehr märchenhaften Zauber. Eine kleine Idylle.

Und dann sehe ich ihn. Den kleinen Raben. Unser Freund hat einen kleinen Raben gemalt, und ich hatte nichts davon gewusst. Er hat ein wunderbar lila-schwarz schimmerndes Gefieder. Und einen so schön geschwungenen schwarz-glänzenden Schnabel. Sehr elegant. Sehr würdevoll. Er hat große, blitzende Augen, die mich sehr wach anblicken. Als ob er auf etwas warte. Auf mich? Darauf, dass ich etwas sage? Etwas tue? Er beugt sich ein wenig vor. Er ist mir zugeneigt. Und er trägt eine Krone, golden mit rosa Perlen. Ist er vielleicht eine Räbin? Ja, ganz bestimmt! Und das finde ich natürlich toll! Eine Räbin! Die mich erwartungsvoll anblickt, eine Krone trägt und mir zugeneigt ist.

Das kann doch nur ein gutes Omen sein, oder?

Werde ich von nun an an das Gute in den Rabenvögeln glauben?

Ich weiß, dass es wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit, gar nichts zu bedeuten hat. Was ich darin sehe, hat mehr mit mir selbst zu tun, als mit dem Äußeren.

An den Bedeutungen, die im Laufe der Jahrtausende den Rabenvögeln angedichtet wurden, wird für mich wieder eines deutlich: Ich muss die Gegensätze akzeptieren, sie nebeneinander bestehen lassen, so wie ich es von Paul Watzlawick gelernt habe. Wir konstruieren uns unsere Wirklichkeiten, und es gibt nicht immer nur eine. Selten gibt es nur die eine.

Meine über Räbinnen ist jetzt aber ganz positiv und gibt mir ein bisschen Mut. Diese Wahrheit suche ich mir jetzt so aus.

Sie hat mich getroffen, mitten ins Herz – die kleine Abraxa. Und sie wird mich von nun an begleiten.

Danke, Mathias.

Zurück in die Zukunft

Nach vielen, vielen Jahren zurück in der Stadt, in der wir studierten, mit Freunden aus dieser Zeit.
Was hatten wir erwartet?

Vielleicht so etwas wie ein kleines Klassentreffen. Gemeinsam lässt man sich in die alte Zeit zurückgleiten und fühlt sich dabei ein bisschen jünger, viel jünger – ein wohliges Eintauchen in gute, alte Zeiten.

Aber vielleicht sind Studienjahre schon nicht mehr wie die guten alten Schulzeiten, sondern schon mehr der Ernst des Lebens.

Oder vielleicht hatten wir lange genug oder zu lange gewartet, mit dem Zurückkehren, je nachdem, wie man es betrachten möchte.

Es war jedenfalls alles ganz anders.

Die Stadt präsentierte sich schön, aber fremd. Oder war es umgekehrt? Präsentierten wir uns fremd?

Die Sonne schien.
Überall gab es Straßencafés. Das war neu.
Überall saßen junge Menschen in den Straßencafés und waren fröhlich. Das war vielleicht früher auch so, aber wir wussten es nicht mehr.

So vieles war der Erinnerung entfallen.
Und vieles war verschwunden, wie die alten, traditionellen Cafés, die es zu „unserer Zeit“ noch gab, die aber damals schon begannen, nach und nach zu schließen, obwohl sie immer voll waren. Seltsamerweise.

Auf unseren Rundgängen zeigten und erklärten wir uns gegenseitig, wo Café Kleimann gewesen war oder das Schucan mit der Bahnhofsatmosphäre oder die Buchhandlung Regensberg und was wir noch so erkannten, und dann kamen doch einige zarte Erinnerungen auf. Alte, leicht verschwommene Bilder, wie es damals wohl ausgesehen hatte. Das ging so pingpongmäßig hin und her. Die Männer hätten den Wiedererkennungswettbewerb wahrscheinlich gewonnen, wenn wir ihn denn ausgerufen hätten. Zumindest, was die Gebäude anging.

Das Parkhaus an der Uni zeigte sich in ganz neuer Verkleidung. Viel zu schön für ein Parkhaus. Und wieso stand es an dieser Stelle? Stand es dort schon immer? Ja, meinten die Gewinner.

Auch die Mensa war eine fremder Ort. Nur die lauten Geräusche im Speisesaal waren so nervtötend wie seit 1000 Jahren. Die lauten Klappergeräusche vom Geschirr und das irritierende Stimmengewirr – ein leichtes Gefühl des Déjà-vu – aber keines, dem ich gerne lange nachsinnen wollte . . .

Einiges schien zwar noch so zu sein, wie es immer war. Aber bei näherem Hinfühlen änderte sich das wieder schnell. Das Blaue Haus mit seinen niedrigen Decken, unverändert, wie immer schummerig, und sogar der abgestandene Kneipen-Geruch wabert noch durch die verwinkelten Stockwerke mit den kleinen Tischen und der knarrenden Holztreppe. Aber auch das versetzte uns nicht wirklich zurück. Ein paar Erinnerungen blitzten zwar auf, wie ich mit den Eltern hier gesessen hatte und die Mutter sich über grüne Nudeln im Blauen Haus freute. Grüne Nudeln waren damals noch nicht so weit verbreitet. Und jetzt schmeckten sie aber nicht mehr so gut und waren zu hart.

Schwärmerei kam auch nicht im Tropenhaus des Botanischen Gartens auf, das wir früher so oft besuchten.
Vielleicht ein Hauch davon im Kreuzgang des Doms – mit der Barlach-Bronze vom Bettler. Das ist ein magischer Ort. Aber das liegt eher daran, dass ich Kreuzgänge immer liebe. Ich suche jeden auf, den ich finde. Sie sind magisch. Immer. Und Barlach sowieso.

Alles war anders. Anders, als ich es in Erinnerung hatte, ganz anders.
Fremd. Es war, als ob ich auf einem Balkon stand und herabblickte und nichts wirklich erkannte. Oder nur so, als ob ich es schon einmal in einem Film gesehen hatte, nicht in meinem wirklichen Leben. Nicht, dass wir dort an der Brüstung saßen wie Waldorf und Stadler, um über alles zu lästern. Es gab ja keinen Grund zu lästern, nur zu staunen. Über die Stadt. Über uns.

Wie sie war. Wie sie ist.

Wie wir waren. Wie wir sind.

Das Institut, in dem unsere Freundin gearbeitet hatte, fanden wir von Sträuchern und rankenden Pflanzen verschlungen und überwuchert vor. Es war offenbar seit etlichen Jahren geschlossen. Die Freunde verschwanden plötzlich. Kurz kam ich mir vor, wie in einem Horrorfilm, in einem Lost Place verloren. Aber dann kamen sie auf mein Rufen hin doch wieder heraus und zeigten uns, was sie gefunden hatten. Die Einrichtung war noch da. Auch wenn die immer noch schönen Fliesen in der Eingangshalle von mörteligen Brocken und Staub und Glassplittern bedeckt waren. Die Labortische standen noch alle in ihren langen Reihen, die Namensschilder hingen an den Türen, Zettel am schwarzen Brett. Eine verlassene, verlorene Stätte. Kein Leben mehr darin. Nur draußen, in Form der alles verschlingenden Natur.

Die Vergangenheit vom Gehölz überwuchert. Kaum mehr zu finden, kaum mehr wiederzukennen. Ein Ort verändert sich mit der Zeit, wird ein anderer, wirklich ein anderer. Ort und Zeit sind aneinander gebunden. Und der Mensch und die Zeit auch. Auch wir sind andere, wirklich andere. Und wir kennen die Früheren vielleicht gar nicht mehr. Im Dschungel verloren. Nicht nur das Gebäude. Auch wir. Die Zeit. Alles verschwunden, überwuchert . . . verloren? Ich weiß es nicht. Verloren vielleicht nicht. Aber etwas, auf das man vom Balkon aus blickt, mit einem Glas Wein in der Hand. Und das man für gut und beendet befindet.

Anders als erwartet, aber doch kein schlechtes Gefühl.
Wir können wieder weiter gehen. Zurück in die Zukunft. Zu den alten Gestalten, die uns aus den Spiegeln im Hotel entgegenblicken.

Verschwinden

Frage niemals nach dem Sinn,

Dann ist er fort, sofort

Verpufft ins Nichts.

 

Du sollst Dich niemals sicher fühlen.

 

Weitere flüchtige Dinge sind:

 

Das Gefühl, etwas verstanden zu haben.

Das Gefühl, etwas endlich geschafft zu haben.

Und Seifenblasen.

 

 

Gedankengewitter

Wenn die Gedanken splittern,

die Splitter durch den Weltraum flittern,

so dass die Sterne endlich zittern

in meinem Glas.

 

Dann kommt von fern ein Grollen,

der Donner schickt sich an zu rollen,

von wo er hätte bleiben sollen,

nun ist er nah.

 

Begleitet wird er von den Blitzen,

die durch das Dunkel runter flitzen,

um die Geister zu erhitzen,

so ist ihr Plan.

 

Doch geht er auf, ihr Plan?

Und wie lange dauert so ein Wahn?

Und worauf kommt es wirklich an?

Wenn die Gedankensplitter sich formen zu Gewittern?

So geht es weiter

Erstens: Du darfst Dich niemals packen lassen.

Zweitens: Im Leben geht es nur um Ablenkung vom Tod.

Drittens: Schönheit kann Die Welt retten.

 

Und der Rest ist Mut.

Früheres Ich

Früheres Ich,

plötzlich sehe ich Dich.

Aber kenne ich Dich?

Und Du?

Kanntest Du mich schon?

Hast Du mich vorausgedacht?

Damals schon alles so gemacht –

wie ich es heute tu?

 

Warum wusste ich nichts

über Dich,

Du flüchtiges Ich?

Wie kam es dazu?

Ich bin erstaunt zu sehen,

wie wir dieselben Wege gehen.

Entfaltete ich mich, überhaupt,

oder bin ich ganz wie Du?

 

Frühere Ichs,

ich glaub, ich kenn Euch wirklich nicht.

Ein flüchtiges Ich ans andere,

so reiht Ihr mich.

Und ich weiß nicht,

was da geschah

und ob ich überhaupt daran beteiligt war.

 

Jetziges Ich,

sehe ich Dich?

Und Du? Siehst Du mich?

Und auf welchem Weg bist Du?

Bist Du wie ich?

Und bin ich schon im Nu

ein früheres Ich,

ein flüchtiges Ich?

So wie Du?